Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan Lipinsky

 

Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen – Soobščenija Sovmestnoj komissii po izučeniju novejšej istorii rossijsko-germanskich otnošenij.

Band 5. Die Tragödie Europas. Von der Krise des Jahres 1939 bis zum Angriff auf die Sowjetunion – Tragedija Evropy 19391941 gg. Ot krizisa 1939 goda do napadenija na SSSR / Hrsg. im Auftrag der Gemeinsamen Kommission von Horst Möller / Aleksandr O. Čubarjan – Pod redakciej Aleksandra Čubarjana / Chorsta Mëllera po poručeniju Sovmestnoj komissii po izučeniju novejšej istorii rossijsko-germanskich otnošenij. München, Oldenbourg, 2013, XVI, VIII, 226, VIII, 238 S. ISBN: 978-3-486-73608-3.

Der 5. Band der Mitteilungen der deutsch-russischen Historikerkommission, die sich die gemeinsame Erforschung des 20. Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht hat, befasst sich mit der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts in den Jahren 1939 bis 1941 und thematisiert damit endlich eines der langjährigen sowjetischen Tabuthemen, das bis heute kontrovers diskutiert wird. Er dokumentiert mit 19 Beiträgen als deutsch-russische Parallelausgabe das internationale Kolloquium der Kommission in Moskau vom Juli 2009. Hermann Graml erläutert Hitlers außenpolitische Strategie und Aleksandr Čubarjan diejenige der sowjetischen Führung. Rolf-Dieter Müller ergänzt speziell Hitlers tages- und rüstungspolitisch bestimmte Entscheidungen über die weitere Kriegsführung seit dem Jahr 1940, und Christian Hartmann stellt wichtige NS-Befehle und –Weisungen über die Planungen zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zusammen. Vladislav Smirnov schildert das Münchener Abkommen und den Hitler-Stalin-Pakt u.a. in den Debatten russischer Historiker, während Inesis Feldmanis beide Verträge vergleichend analysiert. Marie-Luise Recker zeichnet die deutsche Sicht auf letzteren nach. Sergej Slutsch fragt nach der Notwendigkeit des Pakts für Hitler. Georges-Henri Soutou und Lothar Kettenacker schildern die französische bzw. britische Politik vor Kriegsbeginn. Marek Kornat erläutert die polnische, Česlovas Laurinavičius die litauische Außenpolitik jener Zeit; Leonid Gibianskij befasst sich mit der südosteuropäischen Situation. Die französisch-britisch-sowjetischen Verhandlungen behandelt Antonijs Zunda mit Blick auf den Streitpunkt der baltischen Garantien, und Michail Mjagkov zusammen mit Oleg Ržeševskij mit Blick auf die „polnische Frage“. Magnus Ilmjärv fragt nach der Bedeutung des Geheimen Zusatzprotokolls für die baltischen Staaten und der dortigen zeitgenössischen Kenntnis davon. Hein­rich Schwendemann und Heinrich Strods untersuchen die deutsch-sowjetische wirtschaftliche Zusammenarbeit und das von Stalin dabei exzessiv betriebene Appeasement, wobei Strods einen Schwerpunkt auf Lettland als wichtiges Exportland legt. Johannes Hürter beschließt den Band mit einer Studie zu der durch Stereotypen geprägten Wahrnehmung der Sowjetunion und deren Bewohner durch 25 höchste Wehrmachtsgeneräle.

Damit kommen im Band mit Čubarjan, Recker und Slutsch nicht nur Mitglieder der Kommission, sondern neben weiteren sechs deutschen und vier russischen Historikern auch ein estnischer, drei lettische, ein litauischer, ein polnischer und ein französischer Kollege zu Wort und damit u.a. auch Vertreter aus den direkt vom Hitler-Stalin-Pakt betroffenen Ländern. Die westlichen Beiträge referieren überwiegend den bekannten Forschungsstand. Čubarjan, der russische Co-Vorsitzende der Kommission, hat sich zwar in seinen Äußerungen etwas von seiner früheren sowjetischen Diktion gelöst, verharrt jedoch deutlich auf prosowjetischen Interpretationen, die Stalins Entscheidungen im August 1939 entschuldigen, relativieren oder sicherheitspolitisch erklären. So hält er u.a. entgegen der Dokumentenlage und nun etwas verklausulierter daran fest, dass Hitler das Geheime Zusatzprotokoll angeboten und Stalin nur den Teil Polens, „der größtenteils von Ukrainern und Weißrussen besiedelt war“ (S. 14), und damit ehemals zaristische Gebiete zurückerlangt habe. In alter sowjetischer Art verschweigt er, dass die im Augustprotokoll vereinbarte Teilungslinie durch Warschau gehen sollte und dass die sowjetische Seite schon fast eine Woche vor Ribbentrops Besuch das Protokoll mit einer außenpolitischen Interessenklärung gefordert hatte. Mit Blick auf die zahlreichen, speziell deutschen Andeutungen zu territorialen Abmachungen gerade in der Zeit von Hitlers Angriff auf die Sowjetunion lässt sich auch Čubarjans relativierende Äußerung nicht halten: „Es ist interessant, dass auch Hitler-Deutschland nichts über das Protokoll verlauten ließ, selbst in der Zeit des Krieges mit der Sowjetunion“. Vladislav Smirnov äußert sich vergleichsweise kritischer, wenn er die unterschiedlichen Positionen sowjetischer und russischer Historiker kurz beschreibt. Auch er übergeht jedoch Molotovs erste Erwähnung des Protokolls am 17. August 1939 mit Stillschweigen und rückt relativierend die deutsch-britischen Gespräche mit den deutsch-sowjetischen Verhandlungen auf eine Stufe. Mjagkov und Ržeševskij betonen in alter Diktion das Ziel, durch das Abkommen die russische Westgrenze zu sichern, ohne kritisch zu hinterfragen, ob einerseits eine gemeinsame Beseitigung der Pufferstaaten diesem Ziel tatsächlich diente und ob andererseits Stalin den Gebietserwerb tatsächlich zur Stärkung der sowjetischen Verteidigung nutzte. Auch sehen sie die Schuld am Scheitern der anglo-franco-sowjetischen Verhandlungen einseitig auf westlicher Seite, ohne zu erwähnen, dass Moskau auf Forderungen beharrte, die die Souveränität seiner westlichen Nachbarn untergraben hätten. Leider vermischt auch Recker in ihrem Beitrag die Erwähnung eines Protokolls im Rahmen der Wirtschaftsverhandlungen am 29. Juli 1939 mit einem solchen territorialen Inhalts (S. 41). Ja sie behauptet sogar, Ribbentrop sei mit „unterschriftsreifen Entwürfen“ nach Moskau gereist, die ein derart bedrängter Stalin schließlich unterzeichnet habe (S. 42). Ihre Interpretation nähert sich damit erstaunlich derjenigen von Čubarjan. Slutsch setzt sich davon deutlich ab, wenn er betont, dass Stalin durch seinen Vertrag mit Hitler bewusst dessen Krieg im Westen förderte. Auch Gibianskij kommt dank detaillierter Quellennutzung und -interpretation zu klaren Aussagen über Stalins Absichten, die sich offenbar bis in den Sommer 1940 hinein in Südosteuropa primär gegen Briten und Franzosen richteten. Feldmanis betont u.a. die sowjetische Protokollinitiative, Soutou schildert u.a. frühe französische Kenntnisse über das Abkommen und mahnt leider als einziger die notwendige weitere russische Aktenfreigabe an (S. 77). Besonders hierauf sollte die Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen mit Blick auf aktuelle und künftige historische Forschungen vorrangig beharren. Zunda schildert ausgewogener als seine russischen Kollegen in geraffter Form die Moskauer Verhandlungen von Briten, Franzosen und Sowjets. Ilmjärv schöpft aus Archivmaterial weitere frühe baltische Kenntnisse vom Geheimen Zusatzprotokoll und weist auf einen diesbezüglichen guten Austausch der Balten untereinander hin. Kornat arbeitet die verschiedenen Alternativen polnischer Außenpolitik heraus und spricht dem Ressortleiter Józef Beck zeitgenössischen Realismus zu. Laurinavičius nutzt ebenfalls Archivmaterial, um die schwierige litauische Position zwischen Moskau und Berlin zu schildern.

Insgesamt ermöglicht der Band mit seinen jeweils höchstens 20 Seiten zählenden Beiträgen einen gut lesbaren Einblick in den Diskussionsstand der Gemeinsamen Kommission vom Jahr 2009. Kleinere Fehler wie die Datierung des Hitler-Stalin-Pakts auf den 29. statt den 23. August 1939 (S. 208), hätten noch vermieden werden können. Auffallend bleibt die weiterhin unterschiedliche historiographische Bewertung der Dokumente und Ereignisse kurz vor und nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, zumal da russischerseits weiterhin störende Belege unberücksichtigt und wichtige Akten unzugänglich bleiben. Spannend bleibt zudem die Frage, wie sich die innenpolitische Entwicklung in Moskau auf aktuelle und künftige russische Historiker auswirkt. Jüngste Belege aus russischen Schulbüchern im Vergleich mit denjenigen aus den 1990er Jahren stimmen hier eher skeptisch.

Jan Lipinsky, Marburg

Zitierweise: Jan Lipinsky über: Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen – Soobščenija Sovmestnoj komissii po izučeniju novejšej istorii rossijsko-germanskich otnošenij. Band 5. Die Tragödie Europas. Von der Krise des Jahres 1939 bis zum Angriff auf die Sowjetunion – Tragedija Evropy 1939–1941 gg. Ot krizisa 1939 goda do napadenija na SSSR / Hrsg. im Auftrag der Gemeinsamen Kommission von Horst Möller / Aleksandr O. Čubar’jan – Pod redakciej Aleksandra Čubar’jana / Chorsta Mëllera po poručeniju Sovmestnoj komissii po izučeniju novejšej istorii rossijsko-germanskich otnošenij. München, Oldenbourg, 2013, XVI, VIII, 226, VIII, 238 S. ISBN: 978-3-486-73608-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lipinsky_Moeller_5_Die Tragoedie_Europas.html (Datum des Seitenbesuchs)

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